M. Lengwiler u.a. (Hg.): Science, Africa and Europe

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Titel
Science, Africa and Europe. Processing Information and Creating Knowledge


Herausgeber
Lengwiler, Martin; Penn, Nigel; Harries, Patrick
Erschienen
New York 2019: Routledge
Anzahl Seiten
260 S.
von
Marie Huber, Institut für Geschichte, Humboldt-Universität zu Berlin

Die elf Aufsätze des vorliegenden Sammelbands, herausgegeben von drei renommierten Vertretern der afrikanischen und europäischen Geschichte, erlauben über einen Untersuchungszeitraum vom 18. bis ins 20. Jahrhundert zahlreiche neue Einblicke in die wissenschaftliche Erschliessung afrikanischer Lebenswelten durch westliche Forscher (und einige ausgewählte Forscherinnen). Diese Erschliessung – das ist die Leitthese, die sich durch die Beiträge zieht – fand stets in einem Spannungsfeld zwischen Europa und Afrika statt, wobei die Kontinente sowohl als reale Orte als auch als geistige Heimat verschiedener Wissenschaftstraditionen und -systeme fungierten. Obwohl die imperialen Entstehungszusammenhänge, die Afrika zum Untersuchungsobjekt und «lebendigem Labor» (Tilley) westlicher Wissenschaft machten, in allen Fallbeispielen ausführlich erklärt werden, tritt doch in der Gesamtschau eher die Vielseitigkeit der Forschenden in den Vordergrund. Universalgelehrte, Sammlerinnen und Sammler und Forschungsreisende vom 18. Bis zum frühen 20. Jahrhundert handelten oft aus zutiefst persönlichen Motiven, waren zur Finanzierung ihrer Vorhaben jedoch auf Handelsnetzwerke und koloniale Expansion angewiesen. Das zeigt die Geschichte des deutschen Universalgelehrten Peter Kolb sowie seiner Aufzeichnungen über Natur und Menschen in der Kapkolonie, die Nigel Penn und Adrien Delmas in ihrem Beitrag nachvollziehen. Kolonialstädte, Handelsposten und Missionsstationen fungierten als Knotenpunkte in globalen Netzwerken, in denen sich Waren, Ideen und Menschen bewegten. Als solche wurden sie oft auch zum Ausgangspunkt wissenschaftlicher Studien. Expeditionen zu Forschungszwecken wiederum wurden im Lauf des 19. Jahrhunderts als Karriereschritt für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer wichtiger, wie der Beitrag von Sandra Näf-Gloor über den Naturforscher Hinrich Lichtenstein illustriert.

Der Kontext, in dem wissenschaftliche Praxis stattfand, war also das Ergebnis kontingenter äusserer Umstände sowie persönlicher Interessenskonflikte. Das zeigt etwa die Entstehungsgeschichte von Thomas Edwards Bowdichs Mission from Cape Coast to Ashantee (1819), mit der sich der Aufsatz von Sonia Abun-Nasr beschäftigt: Bowdich hatte umständehalber die Leitung einer diplomatischen Mission im Königreich Ashanti übernommen und kam so überhaupt erst in die Lage, seine umfangreiche Darstellung des westafrikanischen Königreichs zu verfassen. Als ebenso repräsentativ kann die Lebensgeschichte der Schweizer Ärztin Louise Jilek-Aal angesehen werden. Marcel Dreier beschreibt in seinem Beitrag, wie sie 1960 durch ihre Tätigkeit als Missionsärztin mit einer in Tanganjika scheinbar ndemischen Form der Epilepsie in Berührung kam, deren Erforschung sie über lange Jahre begleiten sollte.

Ausserdem wurden seit dem 18. Jahrhundert auch gezielt die Dokumentation sowie die Sammlung von Pflanzen-, Tier- und menschlichen Objekten in Auftrag gegeben. Der rasch anwachsende europäische und nordamerikanische Markt für «exotische» Objekte beförderte den destruktiven Charakter des wissenschaftlichen Sammelns. Objekte wurden mit immer gewaltsameren Methoden aus bestehenden gesellschaftlichen Zusammenhängen gerissen. Das zeigt sich etwa in der Beziehung zwischen Hinrich von Lichtenstein, dem Direktor des Berliner Zoologischen Museums von 1813 bis 1857, und dem in der Kapkolonie ansässigen deutschen Jäger und Sammler Ludwig Krebs, die Patrick Grogan in seinem Aufsatz näher beleuchtet. Als weiteres eindrückliches Beispiel mag der systematische Aufbau des Züricher Botanischen Gartens durch Hans Schinz gelten, den dieser im Anschluss an seine Forschungsreisen nach Südwest-Afrika in der 1880er Jahren in Angriff nahm.

Indem ein möglichst weit gefasster Begriff von Wissenschaft verwendet wird, ist es den Autorinnen und autorendes Bands möglich, eine Vielzahl von Themen zu diskutieren. Nicht nur naturwissenschaftliche Sammlungen, sondern auch ethnographische, archäologische, medizinische und ökonomische Studien werden darin vorgestellt. Die Herausgeber sehen ihren Band durchaus als kritischen Beitrag zur Rolle westlicher Wissenschaft in der afrikanischen Geschichte. Gleichzeitig nehmen sie jedoch auch eine differenzierte Position gegenüber solchen Stimmen ein, die im Zuge einer Dekolonisierung der Wissenschaften ältere wissenschaftliche Erkenntnisse über Afrika rundheraus ablehnen. Eine solche Kritik liesse sich auch an den Beiträgen des vorliegenden Bands üben, in dem afrikanische Stimmen und afrikanisches Wissen jenseits des schriftlichen Expertenwissens nicht vorkommen. Zwar finden lokale Akteure gelegentliche Erwähnung, aber es findet keine vergleichende Gegenüberstellung der Wissensproduktion von afrikanischen und nichtafrikanischen Akteuren statt. 1 Die Wissenschaft, die Gegenstand der hier versammelten Beiträge ist, bleibt westlichen (oder zumindest westlich ausgebildeten) Akteuren vorbehalten, die auf den afrikanischen Kontinent kommen: Naturforschern, Ärzt*innen, Ökonomen oder den Nachkommen weisser Siedler in Südafrika. Über die lokalen Akteure erfahren wir nur, was sich aus «gegen den Strich» gelesenen Quellen ergibt. Die Herausgeber plädieren für eine zweigeteilte Betrachtung wissenschaftlicher Wissensproduktion: innerhalb und ausserhalb der Labor- und Studienräume westlicher Universitäten. So zeigen sie – durchaus überzeugend – dass nicht-akademisches, lokales Wissen nicht per se negiert wurde, sondern häufig erst in dem Moment, in dem es für ein bestimmtes Publikum aufgeschrieben werden sollte. Die Rezeption durch wissenschaftliche Fachkollegen und eine immer breitere gebildete bürgerliche Schicht in Europa trug dazu bei, dass die Dokumentation afrikanischer Pflanzen- und Tierarten, Landschaften und Gesellschaften in eine einseitige, objektivierende Erzählung mündete. Dennoch hätte das Argument, wonach Wissenschaft in Europa und Afrika nach grundsätzlich anderen Regeln funktionieren, eine ausführlichere Diskussion verdient. Ist Wissenschaft wertneutral und objektiv? Die Antwort auf diese Grundsatzfrage, die beim Lesen immer mitschwingt, bleibt uns der vorliegende Band schuldig.

So liegt auch die Überlegung nahe, dass dieser Band nicht nur in der Geschichtswissenschaft, sondern auch in den Disziplinen Gehör finden sollte, die hier im Mittelpunkt stehen. Gesundheit und Krankheit etwa sind einerseits vielschichtige Diskurse, andererseits werden sie zunehmend im Rahmen der internationalen, wissenschaftlichen Standardisierung verhandelt. Die dabei zwangsläufig entstehenden Kollisionen mit lokalen Erkenntnissen und Kontexten können dazu führen, dass selbst die vielversprechendsten Innovationen verhindert werden, wie die von Lukas Meier untersuchte Geschichte des in Kolumbien entwickelten, in Tansania und Gambia getesteten und letztlich nicht zugelassenen Malaria-Impfstoffes SPF66 zeigt. So beschreibt der Beitrag von Heinrich Hartmann eindrücklich, wie dem Begriff der Tropenmedizin bis heute ausgrenzende und rassistische Vorstellungen inhärent sind. Die empirische Grundlage der modernen Lebenswissenschaften ist die Taxonomie – ein Vorgang, durch den auch die aussereuropäische Welt in europäischen Begriffen dokumentiert wurde. Die Benennung von Tier- und Pflanzenarten ist diesen Disziplinen fest eingeschrieben und muss kritisch neu bewertet werden – auch darum geht es, wenn heute vielfach die Rede davon ist, Wissen und Wissenschaft zu «dekolonisieren». Auch die Neubewertung, und nicht nur eine Erweiterung und Umsortierung, von musealen Sammlungen der Vor- und Frühgeschichte ist hierfür entscheidend. Gerade die Archäologie als Wissenschaft muss den Mut haben, radikal in Frage zu stellen, ob sie ihren Anspruch, die angeblich weissen Ursprünge der Zivilisation zu belegen, jemals gänzlich aufgegeben hat. Dazu findet sich einiges im Aufsatz von Tanja Hammel über die Entdeckung von Steinkeilen im Südafrika des frühen 20. Jahrhunderts. Doch alle Versuche, die epistemischen Grundlagen wissenschaftlicher Disziplinen umzuschreiben, erweisen sich bis heute als schwierig. Durch dieselbe universalistische Sprache, die eine koloniale Vereinnahmung und Deutungshoheit über Afrika beanspruchte, konnte Wissenschaft auch zu einem Werkzeug im Kampf gegen Kolonialismus und Unterdrückung werden. Auch die politischen und intellektuellen Eliten im postkolonialen Afrika haben sich der Wissenschaft bedient, um ihre Positionen in Staat und Gesellschaft zu sichern. Das gilt insbesondere für das von Daniel Speich-Chassé angeführte Beispiel der Makroökonomie.

Die Herausgeber und Autor*innen dieses Bands argumentieren immer wieder überzeugend dafür, dass es nicht allein darum gehen kann, wie Wissenschaft zum politischen Werkzeug wurde. Stattdessen legen sie den Fokus darauf, wie unhinterfragt viele Konzepte und Kategorien mit kolonialem Hintergrund in der Wissenschaft noch immer sind. Der Sammelband ist deshalb als wichtiger wissenschaftsgeschichtlicher Beitrag zu einer hochaktuellen Dekolonisierungsdebatte zu verstehen, der durch seine lehrreichen Fallstudien auch für die allgemeinere europäische, afrikanische und Globalgeschichte lesenswert ist.

Anmerkung:
1 Solch einen Versuch unternimmt der Sammelband Hana Horáková, Katerina Weřkman (Hg.), Knowledge Production in and on Africa, Wien 2016.

Zitierweise:
Huber, Marie: Rezension zu: Lengwiler, Martin; Penn, Nigel; Harries, Patrick (Hg.): Science, Africa and Europe. Processing Information and Creating Knowledge, New York: Routledge, 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (3), 2020, S. 476-478. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00071>.